Wichtiger Bestandteil des täglichen Miteinanders eines Ortes war die Abgrenzung von all jenen, welche zweifelhaften Rufes oder/und mit der Religion bzw. dem gewohnheitsmäßig nicht akzeptablen Gesetzmäßigkeiten in Übereinstimmung stehenden Personenkreisen. Die Begrifflichkeit der Standesehre bzw. der Ehrlosigkeit spielt hierbei eine ganz besondere Rolle. Zu den unehrlichen Leuten im weitesten Sinne rechnete man die Hirten, Schäfer, Müller, die Bader, die Leineweber, Barbiere, Zöllner, Totengräber, die Türmer, Bettelvögte, Nachtwächter, die Schergen, Gerichts- und Polizeidiener, vor allem aber, mit der größten Unehrlichkeit behaftet: den Scharfrichter und seine Gesellen. Auch sind noch die Spielleute aller Art, die Gaukler, Possenreißen, Seiltänzer, fahrende Musikanten zu erwähnen.
In den frühesten Jahrhunderten dagegen war der Scharfrichter seines Standes würdig. So führte anno 1040 ein englisches Gesetz den Carnifex unter den großen Reichsbeamten auf, später, auch schon um die gleiche Zeit, von Karl dem Großen an, im Frankenreiche, verschwindet dieses Amt. Galt es, ein Todesurteil zu vollziehen, so musste das von der Gemeinde selbst oder von den Schöffen ausgeführt werden. Erst im 14. Jahrhundert übertrug man die Exekution dem Fronboten, und später besonders zu diesem Zweck angestellten Personen, welche zugleich die Abdeckerei zu besorgen hatten.
Diese Personen, die Henker und ihre Genossen, waren der allgemeinen Verachtung ausgesetzt.
Dies ging sogar soweit, das, starb der Scharfrichter eines Ortes, man manchmal niemanden fand, um ihn zu bestatten. Dann musste eine Tagelöhner speziell hierfür bestellt werden.
Doch der Scharfrichter wollte von einer so geringen Wertschätzung nichts wissen. Nannte sie nicht der Volksmund "Meister" und wurden sie nicht in den amtlichen Protokollen als "Nachrichter" verzeichnet, weil sie nach dem Richter in Aktion traten? Ihre heikle Tätigkeit brachte es mit sich, dass sich das Nachrichteramt fast überall in denselben Familien forterbte. Infolgedessen entwickelte sich auch bei ihnen ein gewisses Standesgefühl, und darauf begründeten sie, wie jeder Stand, auch einen Anspruch auf Ehre!
Nicht unbedingt beliebter, zumindest beim Landesherrn, machte sich der
Scharfrichter, indem er Kuren aller Art betrieb, an Vieh hauptsächlich, aber meist auch an Menschen. Dabei hilfreich war ihm der festverankerte Aberglaube im Volke, wobei z.B. der Scharfrichter
von Pilsen gegossene Freikugeln veräußerte, andere handelten mit der Alraunwurzel, dem Diebesdaumen, oder dem Blut von Hingerichteten als Mittel gegen die Fallsucht. Für Sachsen entschied das
Schöppengericht zu Leipzig 1745 im Streitfall zwischen dem Leipziger Scharfrichter und den Barbieren, dass den Scharfrichtern im ganzen Römischen Reich
verstattet würde, dergleichen Curen vorzunehmen, welche unter die Verwundungen nicht zu rechnen wären, daß ihnen aber zustehen solle: das Einrichten verrenkter Glieder und Buckel und Arm- und
Beinbrüche.
Sprichwort: Schäfer und Schinder sind Geschwister Kinder ... kommt daher, weil die Schäfer denen, aus ihrer Herde verreckten Schafen die Felle abziehen, auch wohl gar das Recht erlangen, solche allein abdecken zu dürfen. Auch standen sie in frühern Zeiten in der Rangordnung der öffentlichen Meinung kaum über den Abdeckern.
Unehrliche Helfer. Im Jahre 1492 war Meister Kunz mit Mathes Strobel und andern Gesellen dabei den Dachstuhl auf das Haus des Herrn Johannes Nestmann aufzusetzen. Da das nicht recht gelingen wollte, rief der Bauherr dem Scharfrichter über den Zaun hinweg zu: „Komm, hilf den Leuten heben!“ Da griff der Nachrichter kräftig zu, und so gelangte die Arbeit schnell zu einem guten Ende. Weil aber der Scharfrichter zu den unehrlichen Leuten gehörte, die jedermann meiden musste, hatte dieser Hilfsdienst noch üble Folgen.
Als die Dresdner Meister und Gesellen des Zimmererhandwerks davon erfuhren, wollten sie Meister Pfingsten und seine Gesellen für untüchtig und schadhaftig erklären.
Vor sitzendem Rat entschieden zwei als Schiedsrichter berufene Meister in Vollmacht des ganzen Handwerks, dass dieser Streit beizulegen sei; niemand sollte in Zukunft des Vorfalls wegen an seiner Ehre, Ruf und Handwerk verletzt werden. Meister Pfingsten und seine Gesellen aber versprachen, wegen ihres Missverhaltens eine Tonne Bier zu schenken.
Ein Sohn des Schornsteinfegerobermeisters Bosse war 1725 in Markranstädt zu einer Hinrichtung gewesen und hatte dabei auf einer Leiter gestanden, die der „Schinderknecht" an den Pfahl gelehnt hatte, auf dem oben das Rad befestigt war. Das kam heraus, und man erklärte ihn (wegen der Berührung mit den Henkerwerkzeugen) als unehrlich, „denn nach allgemeiner opinion (Meinung) und fast durch die ganze Welt werde die Scharfrichters- und noch mehr die Schinderknechts- Profession und der Umgang mit dergleichen Personen vor gar sehr verwerflich erachtet dermaßen, daß, wenn ein zünftiger Mann sich darinnen vergehe, besten Zunft und Innung fast scandaleus werden wolle, bis sie den Flecken von sich removiret". Der Streit ging an sieben Jahre, und Bosse musste eine größere Buße zahlen.
Das die Ehre des Scharfrichters schon vor der Ausgabe der Reichs-Zunftordnung Anno 1731 auch öffentlich vertreten wurde, beweist nachfolgende Hochzeitsankündigung, auch wenn nach wie vor daselbst innerhalb der Scharfrichterdynastien eingeheiratet wurde:
Bey dem / Erfreuten Hochzeit-Feste / Tit. / Hrn. Johann Wilhelm Thienels, / Wohlbestallten Scharff- und Nach-Richters in Breßlau, / So mit der / Wohl-Erbaren, Viel- Ehr- und Tugendbelobten / Jungfer / Elisabethen Margaretha, Tit. / Hrn. Joh. Christian Patzschens / Wohlbestallten Scharff- und Nach-Richters in Dreßden / Eheleiblichen jüngsten Jgfr. Tochter, Den […] Septembr. Anno 1725 zu Breßlau copuliret wurde, / Wollte versprochener maßen / Der Jungfer Braut gratuliren, / und / Dem Herrn Bräutigam recommandiren / eine Perle, / Johann Heinrich Schneider, Cantor in Roßwein.
P.S.: In einem dem 23. Juni 1735 wegen eines umgefallenen von ihm eröffneten Pferdes, ausgestellten Attestate, hat der Scharfrichter zu Gera mit Executeur des justices unterschrieben.
(Ehrlichsprechung von Soldaten unter Friedrich Wilhelm.) ... Im Geh. Staatsarchiv in Berlin befindet sich folgender Bericht des Generalmajors Fürsten Christian August von Anhalt-Zerbst. Chef des damaligen Infanterie-Reg. Nr. 8 an den König Friedrich Wilhelm.: „Dieser Tage habe ich einen achtzehnjährigen recrouten von 68½ Zoll engagiret, derselbe ist eines Scharffrichters Sohn. Wiewohl nun dergleichen Leute überall vor Ehrlich passieren, auch zu Handwerken admittiret werden, so stelle zu Ew. Königl. Maj. Befehl, ob etwan dennoch eine declaration nötig sei. Stettin, 6. Juni 1732. Gez. Christian August F. z. Anhalt.“ Der König schrieb auf den Rand dieses Berichtes: „soll Ihm die Fahne über den Kopp schwenken, unter ander Regiment,— sein dann ehrlich. F.W.“— Daraus geht hervor, daß doch noch besondere Prozeduren nötig waren, um den Sohn eines Scharfrichters, Schäfers etc. in den Augen seiner Mitmenschen ehrlich zu machen. Besonders merkwürdig ist, daß der König befiehlt, den Mann an ein anderes Regiment abzugeben, sodaß er dort schon als ehrlich gemacht eintritt. Der König mutete also dem Regimente, bei dem jener Mann bereits angeworben war, trotz seiner 5 Fuß 8½ Zoll Leibesgröße nicht zu, den unehrlich Geglaubten zu behalten. Ob dieses Ehrlichmachen mit der Fahne im Stillen oder vor versammeltem Kriegsvolk geschah, ist jetzt nicht mehr zu ermitteln.
1745: Ob die Scharfrichter vor Ehren anrüchtig zu achten? / Aus diesem allen nun ist sattsam zu erkennen, daß dergleichen Personen keineswegs vor infam oder unehrlich und aller ehrbaren Gesellschaft unwürdig geachtet werden können ... Welches, unter des seel. Herrn D. Abraham Kästners, eines wohlverdient gewesenen Rechts-Consulenten und Prof. Publ. zu Leipzig, Praesidio, de carnifice fama non laborante, anno 1745 gehaltenen, von Herrn Christian Heinrich Breuningen, letzigen berühmten und die studirende Jugend mit äußerstem Fleiße unterrichtenden Doctore Juris, mühsam ausgearbeiteten Dissertation gründlich behauptet worden.
Vorgestern Nachmittag fing auf der Radebergerstraße der Caviller einem ältlichen Herrn den Hund, der er auf einen Augenblick des Maulkorbs entledigt hatte, weg. Der Herr gerieth ganz außer sich, aber es half ihm nichts, er mußte bei dem begleitenden Wohlfahrtsaufseher Caution erlegen und außerdem mußte er sich verbindlich machen, seinen Hund thierärztlicher Untersuchung zu unterwerfen. Bei dem Conflict entfuhr dem Herrn das Wort „Schinder“, worüber der Caviller in große Entrüstung gerieth. [Dresdner Nachrichten, Nr. 156, Mittwoch, den 05. Juni 1867]
Anrüchigkeit und Volksglaube in allen Ehren ... Im Zeichen des Gewohnheitsrechts, der zeitlich unterschiedlich moralischen Anschauungswerte ist der Abdecker nicht immer im Zeichen der Paria (Unterpriviligierten, Ausgestoßenen) zu vertreten. Beweise hierfür geben kirchliche Taufeinträge (explizit in diesem Falle für Rochlitz angesprochen), wo allein ehrliche Berufsstände den Täufling begleiten oder Beerdigungen des Scharfrichters und seiner Frau durch die Schützengesellschaft und Kantorei erfolgten. Das ihm dennoch ein gewisser Hauch von Scham, Abneigung und Grauen anhaftet, ist leicht verständlich, denkt man allein an die durch den Scharfrichter vollzogenen Hinrichtungen. Doch in Zeiten von Pest und Seuchen konnte der Stadtbewohner durchatmen, u.a. das gefallene Vieh nicht selbst wegzuräumen zu müssen.